Großenhain die Stadt mit Überraschungen
Der neugierige Heimatinteressierte wird überrascht
In meinen Lebenserinnerungen tauchen immer mal wieder Regionen, Ortschaften und Gemeinden auf, die ich als Kind und Jugendlicher zwangsläufig passieren oder besuchen musste, zu denen ich aber nie eine richtige Beziehung hatte. Die Stadt Großenhain zähle ich zu dieser Kategorie der kleinen und großen Unbekannten.
Bei den jährlich drei- bis viermal notwendigen Reisen zu Verwandten, die in der Gegend zwischen Riesa und Gröditz ihr Zuhause hatten, wurde die Stadt an der Großen Röder zwischen 1970 und 1990 wirklich nur gestreift. In Erinnerung blieben mir nur der vom sowjetischen Militär beherrschte Flugplatz am Ortsausgang und die ziemlich weit auseinander liegenden Bahnhöfe Cottbuser Bahnhof und Berliner Bahnhof.
Später, als meine Verwandtenbesuche sich erübrigt hatten, stand Großenhain erst recht nicht mehr auf der Liste „meiner“ interessanten Städte. Auch organisierte Veranstaltungen, wie die Landesgartenschau im Jahr 2002 oder der Tag der Sachsen 2014 konnten mich nicht in die ehemalige Kreisstadt locken.
Vielleicht werde ich mit dem Alter interessierter und neugieriger. Das wären Gründe, warum ich mich jetzt, im Sommer 2023, endlich mal auf den Weg gemacht habe, um Großenhain völlig unvoreingenommen zu besuchen. Das Ergebnis dieses Dreivierteltagesausfluges war eindeutig: Große Überraschung.
Großenhain – die Altstadt per pedes
Als Startpunkt für meinen Stadtrundgang durch Großenhain, was bis 1856 nur Hayn hieß, wählte ich den Parkplatz am Topfmarkt. Nach wenigen Schritten befand ich mich im historischen Stadtkern, der wie eine Insel inmitten des Stadtrings liegt. Dieser ist in die vier Straßenabschnitte Franz-Schubert-Allee, Carl-Maria-von-Weber-Allee, Beethovenallee und die Mozartallee gegliedert, was eine leichte Orientierung ermöglicht.
Kreuz und quer lief ich durch die Gassen und Straßen. Ihre Namen sind meist eng mit der regionalen Geschichte verbunden und bieten dem Heimatinteressierten viel Spielraum für eigene Überlegungen. In einem Adress- und Geschäftshandbuch der Stadt Großenhain von 1884 finde ich z.B. die noch heute vorhandenen Braugasse, Poststraße, Klostergasse, Schlossstraße, Apothekergasse, Frauengasse, Frauenmarkt, Hauptmarkt und natürlich den Kirchplatz. Nebenbei fallen mir im erwähnten Adressbuch vier Straßennamen auf, die es so nicht mehr gibt. Es handelt sich um die Augustusallee (heute Carl-Maria-von-Weber-Allee), Marienallee (heute Beethovenallee), Johannesallee (heute Mozartallee), Amalienallee (heute Franz-Schubert-Allee), als Stadtring angelegt, welcher die Altstadt einschließt. Die Umbenennung erfolgt wohl nach 1945.
Eine kleine Einschränkung gibt es allerdings für die Amalienallee. Diese wurde 1937 in Holdinghausen-Ring umbenannt. Der Namensgeber war NSDAP-Kreisleiter für Großenhain, „Nazi Nummer eins“, wie es in einem Artikel der Sächsischen Zeitung vom 28.04.2015 zu lesen ist und starb im Juli 1937.
Etwas Großenhainer Geschichte
Vorbei an den markanten innerstädtischen Sehenswürdigkeiten von Großenhain, wie Schloss, Stadtmuseum „Alte Lateinschule“, Marienkirche und Rathaus mit Marktplatz führte mich mein Spaziergang immer wieder in die zahlreichen Gassen. Dabei fielen mir nicht nur die überwiegend sanierten und unterschiedlich gestalteten Häuserfronten auf, sondern oftmals auch die Hauszeichen oberhalb der Eingangspforte. Deren Symbole lassen Rückschlüsse auf das vom ehemaligen Besitzer oder Bauherrn ausgeübte Handwerk zu (Bäcker, Handschuhmacher, Tischler, Fleischer). Als noch interessanter erachtete ich die Tatsache, dass fast alle Hauszeichen ähnliche Jahreszahlen von 1744 bis 1748 aufweisen. Was hat es damit auf sich?
Im Haus Töpfergasse 6 brach am 8. Juni 1744 ein Brand aus, der sich innerhalb von drei Stunden zu einem Stadtbrand entwickelte. Dreiviertel der Stadt wurde zerstört. Das Feuer vernichtete 380 Häuser, 2 Kirchen, das Rathaus und drei Tortürme. Fünf Menschen starben. Beim folgenden Wiederaufbau zwischen 1744 und 1748 erhielten die Hauszeichen die Zahlen des jeweiligen Baujahres.
Ich verließ den Stadtkern und lief durch die Poststraße, vorbei an der Klosterruine des ehemaligen Nonnenklosters, in Richtung Bahnhof. Gleich neben dem Gebäude befindet sich mit der Karl-Preusker-Bücherei die städtische Bibliothek, deren Namensgeber der Initiator der ersten öffentlichen Bibliothek Deutschlands war.
Karl Benjamin Preusker (1786 – 1871) wurde in Löbau geboren und verstarb in Großenhain. In beiden Städten ist er Ehrenbürger, auch wenn er in Großenhain (damals noch Hayn) intensiver gewirkt hat. In Großenhain gründete er 1828 eine Schulbibliothek, die 1833 vom Stadtrat als öffentliche Bibliothek anerkannt wurde.
Die zwei Bahnhöfe von Großenhain
Mein Weg führte mich durch die Bahnhofstraße zum Großenhainer Bahnhof, den ich bald erreichte. Das eindrucksvolle Gebäude ist von weitem sichtbar. Auch an diesem Ort versteckt sich wieder eine interessante Geschichte.
Schon 1862 wurde die Eisenbahnstrecke Großenhain – Priestewitz mit Anschluss an die Verbindung Leipzig – Dresden eingeweiht, was auch einen Bahnhofsbau zur Folge hatte. Acht Jahre später verlängerte man diese Strecke bis ins preußische Cottbus. Die heutige Bahnlinie RE18 verläuft noch immer genauso.
Mit der Eröffnung der Bahnstrecke Dresden – Berlin im Jahr 1875, die auch durch Großenhain führte, hatte die Stadt plötzlich zwei Bahnhöfe. Ab da hießen diese Großenhain Cottbuser Bahnhof (die bis dahin einzige Station) und Großenhain Berliner Bahnhof. Das war bis 2002 so. Der letzte Passagierzug hielt in Großenhain Berl Bf (so die offizielle Bezeichnung) am 13. Dezember 2002. Von da ab läuft der ganze Bahnverkehr über den Cottbuser Bahnhof. Damit war auch der Hinweis im Kursbuch oder Taschenfahrplan „Ankunft bzw. Abfahrt Berl Bf. Fußwegübergang nach und von Cottb Bf. 10 Min“ nicht mehr notwendig.
Nach der äußeren Besichtigung des Bahnhofsgebäudes lief ich über die Mozartallee und die Franz-Schubert-Allee zu meinem Ausgangspunkt zurück. Zum Abschluss konnte ich resümieren: dass Großenhain so interessant sein kann, hatte ich nicht erwartet. Großenhain ist für mich doch eine Stadt mit vielen Überraschungen.